Woanders

Reisen im Kopf – Erinnerungen von wo anders

Eigentlich wären wir beide gerade in Rom, Du und ich. Also ich in Rom vor Ort – und Du in Wort und Bild hautnah dabei. Eigentlich ist übrigens eines dieser Worte, das ich in meinen Texten so gut wie nie verwende (genau wie „aber“ und „muss“). Weil eigentlich ein Wort ist, das von hätte, täte, könnte spricht: Es ist halbherzig und zeigt, dass die ursprüngliche Absicht schon längst aufgegeben wurde. (Danke, lieber Duden für diese Definition!) Doch ungewöhnliche Umstände fordern ungewöhnlich Mittel. Und deshalb darf dieser Post heute mit einem „eigentlich“ starten.

EDEKA statt Rom

Wer mich kennt weiß: Länger als 3-4 Wochen zuhause – und ich habe das dringende Bedürfnis, aus meiner Wohnung und dem Home Office herauszukommen. Ob es für einen Ausflug, einen Kurztrip, eine Reise ist – nicht so wichtig: Hauptsache Tapetenwechsel. Als mir irgendwann Anfang März bewusst wird: Das mit dem Reisen – zumal nach Rom – ist aktuell keine gute Idee, wehrt sich ganz offensichtlich etwas in mir. Ein kurzer Schreckmoment: Ich muss jetzt zuhause bleiben. (Ja, muss ist auch eines dieser Unworte.)

Erstaunlicherweise ist dieser Moment jedoch gleich wieder vorüber. Die Akzeptanz kommt stufenweise und schnell: Erst sind es Auslandsreisen, die nicht mehr möglich sind, dann der Besuch von Freunden innerhalb Deutschlands, dann die Familie in der eigenen Stadt – bis es schließlich Sinn macht, komplett zuhause zu bleiben. Neues Reiseziel einmal pro Woche: Der EDEKA gleich über die Straße.

Die Freiheit in der eingeschränkten Bewegungsfreiheit

Wo es normalerweise eine Katastrophe darstellt, wenn jemand oder etwas meine Bewegungsfreiheit einschränkt, ist diese Selbstisolation eine Art Aufatmen der Seele. Denn es ist eine, meine ganz bewusste Entscheidung für mich und für meine Mitmenschen. Seit etwa 2 Jahren bin ich – Zitat meiner Mutter – „mit 320 km/h auf dem Feldweg unterwegs.“ Geschäftsgründung, neue Kunden europaweit, Reisen, Tanzen, Schreiben – ich mag es gerne verrückt und schnell. Und genau so ist es auch: Jeden Tag 6-10 Stunden texten, jeden Abend raus, Tanzschule, Singen, Fortbildung, Events, Kirche, Party, Kino, Freunde und Familie treffen. Nur kein Stillstand.

Frühlingserwachen bei herrlichstem Sonnenschein am Augsburger Wertachkanal. Mein letzter Spaziergang, bevor es heißt: Ab jetzt bitte zuhause bleiben.

Und auf einmal ist er da, der Stillstand: Innerhalb von knapp 24 Stunden ist mein Kalender – leer. Ich atme vorsichtig ein. Gucke verstohlen mehrfach am Tag in die Kalenderapp: Er bleibt leer. Einerseits gruselig, andererseits schafft diese Leere Raum für ungeahnte Möglichkeiten. Mal sehen, welche.

Vom Reisen im Kopf

Zunächst setze ich mich an diesen Blog. Knete, ziehe, stupse, miste aus, probiere neue Ideen aus und verwerfe sie. Alles unter dem Gedanken: Wie kann ich diesen Blog so machen, dass Du noch mehr Spaß daran hast? Damit wir beide zusammen Reisen können – wenn auch aktuell nur im Kopf. Deshalb denke ich mich in meine alten Blogposts hinein: Boston, Straßburg, Bali, Samos, die Camargue, Wale beobachten in Tadoussac

Eine Reise hält deutlich länger an als die bloße Bewegung durch Raum und Zeit.

John Steinbeck

Ich schwelge, erinnere mich, schreibe diese Artikel um, die damals ursprünglich ein Tagebuch nur für mich waren. Damit Du noch besser an diesen Abenteuern teilhaben kannst. Sitze mit einem Lächeln auf den Lippen stundenlang vor dem Laptop und erinnere mich an großartige Momente. Quasi Erinnerungen von wo anders.

Erlebnisse statt Dinge

Es ist für mich eine Zeit zum Erinnern, zum Schwelgen, zum Nachdenken über mein Leben. Vorgestern schreibe ich meinem besten Freund:

Mir ist aufgefallen, dass ich momentan in etwa das Leben führe, das ich irgendwann mal mit 90 Jahren führen werden. Und es ist gut, jetzt schon zu wissen, welche Dinge mir (hoffentlich) noch lange bleiben werden. Ich bin gerade massiv dankbar dafür, dass ich bisher in meinem Leben nichts ausgelassen habe und schon jetzt großartige Erinnerungen habe, von denen ich in Zeiten wie diesen zehren kann.

Aus einem Chat mit meinem besten Freund

Diese Dankbarkeit gilt für bestandene Abenteuer und einzigartige Begegnungen. Dafür, dass ich viel von meiner Zeit und meinem Geld in Erinnerungen und Menschen anstatt in Dinge investiert habe. Dafür, dass ich um meine Bewegungsfreiheit herum sogar ein Geschäftskonzept aufgezogen habe, das aufgeht. Dafür, dass ich den Luxus einer warmen, trockenen Wohnung (mit Balkon!) habe. Dafür, dass meine Lieblingsmenschen in Sicherheit sind.

Denn sollte es heute heißen: Du darfst oder kannst nie wieder reisen, dann kann ich aus meinen Erlebnissen schöpfen. Nur ein Gedanke an die Hängematte in Bocas del Toro, den Sonnenuntergang im seichten Meerwasser der Nusa Lembongan oder das Gefühl, ganz allein an meinem Traumstrand auf Cayo Zapatillo II zu baden – und ich habe Glück pur im Bauch.

Urlaub auf Balkonien

Und so mache ich das Beste daraus: gehe auf meinem Mini-Balkon joggen und tanke dort Sonne, wenn sie gerade scheint. Nutze die Zeit, um mal wieder mit meinen Perlen zu spielen, lecker zu kochen und meine Nägel bunt anzupinseln. Oder für so profane Dinge wie Schuhe putzen, Schränke misten oder Schubfächer auswischen. Natürlich ein wenig mit dem Gedanken im Hinterkopf:

Wenn ich es jetzt tue, habe ich nachher – ja, das große Nachher – mehr Zeit fürs Reisen, Tanzen, Schreiben. Daher ruhe ich, sammle Kräfte und Ideen und halte so meinem zukünftigen Ich den Rücken frei. Damit ich zusammen mit Dir nachher mit 320 km/h auf dem Feldweg verreisen kann. Ob auf die Philippinen, nach Rom, nach München – ich weiß es nicht. Ich weiß nur: Ich freue mich darauf! Auf neue Erinnerungen.

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